Phänomen Färöer: Achtzehn karge Inseln im Nordatlantik, auf halbem Weg zwischen Schottland und Island, besiedelt von fast 50.000 Wikingern. Nebel, Wind, Kälte – und ein warmes, friedliches Lebensgefühl, das keinen Besucher unberührt lässt. Unterwegs in einem Wunderland zwischen Avantgarde-Pop und Papageientauchern.
Bunk – bimbim, Bunk – bimbim, bunk – bimbim… Der Sommerabend hat weniger als zehn Grad, und der Sand ist nass und der Wind drückt die Wellen immer höher auf den Strand. Und es macht “Bunk – bimbim”. Ein simpler, monotoner Bossanova-Rythmus schwebt auf den düsteren Nordatlantik. Kurz hinterm Spülsaum steht eine große Bühne aus verzinkten Gerüststangen, die Frontseite offen, rundum schwarz verhängt, rechts und links kleinwagengroße Lautsprecherpakete. Bunk – bimbim, und Hunderte von Menschen laufen darauf zu. Bunk – bimbim, der Rythmus zieht sie an, vom Teenager bis zum strubbeligen Graukopf. Mit Strickpullovern, Regenjacken und Miniröcken gehen sie vorwärts, bis sie gedrängt stehen. Ein junger Mann im Goldglitzersakko tritt vor und singt von der Bühne herab ein färingisches Lied zum “Bunk – bimbim”, das ein Schlager sein könnte. Eine auffordernde Handbewegung von der Bühne, und Hunderte singen tongenau den Refrain. Lächelnd, schunkelnd und doch voller Hingabe, all die hübschen Mini-Mädchen und die starken Jungs mit den modischen groben Bärten. Sie sind ganz bei sich und ganz beisammen, auf einem Popfestival, das es so wohl nur auf den Färöer Inseln geben kann.
Das “Great Sing-Along”, das große Mitsingen, ist einer der zentralen Programmpunkte des allsommerlichen G!Festivals. Die populäre Mitsingorgie steht im Programm zwischen Hiphop, Doom Metal und melancholischer Nord-Folklore. Wikingerbands brüllen, Popfeen säuseln, DJ´s pumpen per Schalldruck die Luft hin und her – und alle, alle hören zu. Kleinkinder mit neonbunten Ohrenschützern hüpfen zur Musik, Grauhaarige mit verschränkten Armen lassen sich von der Feierlaune bezaubern, die Jugend saugt Föroyar-Bier und exquisite Sounds auf. Kaum einer hält ein Smartphone zwischen sich und die Bühne. Wem sollte er seinen Film auch posten, wenn die Freunde doch ohnehin alle da sind?
Frag´ den Premierminister
Fast 5.000 Besucher lockt das Festival an den Strand von Gøta, ein Zehntel der Einwohnerzahl dieses winzigen Landes weit draußen im Nordmeer. Sie zelten in den Vorgärten der nur 300 Dorfbewohner, sie schlafen in deren leerstehenden Zimmern und sie planschen gemeinsam in Bottichen mit heißem Wasser, mit Blick auf die Bühne, Drinks am Wannenrand und dem kalten Wind auf den rosig gesottenen Schultern. Etwas abseits haben sich acht Frauen an den Händen gefasst. Sie singen gemeinsam ein vielstrophiges Lied in ihrer eigentümlichen Wikingersprache und tanzen dazu. Fragende Blicke, hochgezogene Augenbrauen der Passanten? Nie.
“Keiner hat hier eine Scheu, öffentlich zu singen,” sagt Jón Tyril. “Singen gehört zum Alltag. Und man macht sich ohnehin nicht über seine Mitmenschen lustig.” Tyril, ein kräftiger Mann um die vierzig mit Fusselbart und legeren Klamotten, sitzt Backstage auf einem schrammeligen Sofa. Er hat das Festival vor zwölf Jahren gegründet. Die Verantwortung hat er abgegeben, doch seine Leidenschaft für die färingische Popkultur glüht weiter. Die Produktivität der Färöer Szene ist schier unglaublich: “Es gibt jetzt zehn bis 20 Bands und Künstler von hier, die international auftreten. Es ist halt wahnsinnig einfach, eine Band zu gründen. Du brauchst Musiker, einen Auftritt im Radio, einen Probenraum? Frag´ jemanden, und der kennt den Richtigen. Wenn es sein muss, kannst du auch den Premierminister anrufen. Wir sind es einfach gewohnt, Dinge anzupacken: Wenn Du hier lebst, hat es keinen Sinn, auf Angebote von außen zu warten!”
Wie viele Färinger hat Tyril ein paar Jahre in Dänemark verbracht, bevor er zurückkam, um eine Familie zu gründen. Knapp 50.000 Menschen, verteilt auf 17 Inseln, sind einfach keine gute Voraussetzung für ein ausdifferenziertes Bildungs- und Wirtschaftsleben. Qualifizierte Jobs oder spezielle Studienfächer? Der Weg nach Dänemark dauert nur zwei Flugstunden, und er ist auch sonst naheliegend. Denn trotz eigener Sprache, eigener Regierung mit vielen Kompetenzen, eigener Airline und sogar einer eigenen Fußball-Nationalmannschaft sind die Färinger Untertanen der dänischen Krone. Auch gezahlt wird in Dänischen Kronen – und das nicht zu knapp, wenn es um verbindende Infrastruktur geht: Neunzehn Tunnel insgesamt überwinden Felsriegel und Fjorde, alleine die zwei Unterseetunnel haben über 90 Millionen Euro gekostet. Fast 40 Tunnelkilometer* sind unverzichtbare Herzstücke eines Straßennetzes, das 85 Prozent der Bevölkerung anbindet. In der Disziplin “Tunnelmeter pro Kopf” könnte das Weltrekord sein.
Wir verlassen das Festival am zerstampften Strand von Gøta und machen uns auf in Richtung Mykines, zum westlichsten Ausleger des Archipels. Die gleichmäßige, graue Straße windet sich durch das gleichmäßige, baumlose Grün der steil geschichteten Inselberge, bis ein schwarzes Loch sie verschluckt. Immer wieder durchbohren Tunnel die vulkanischen Kämme, manche davon einspurig und so dunkel, dass das Scheinwerferlich nach wenigen Metern versickert. Eine der breiteren Röhren führt von der Hauptstadtinsel Streymoy gleich mehrere Kilometer abwärts, erreicht einen Tiefpunkt, steigt an – und entlässt uns endlich ins gleißende Grau der Wolken über der Nachbarinsel Vagar. Wir haben demnach gerade einen Fjord unterquert und sind möglicherweise einer Schule Grindwale unterm Bauch durchgeschlüpft.
Gesalzene Vögel im Fass
Auf dem weiteren Weg von der Flughafen-Insel Vagar zur abgelegenen Vogelinsel Mykines steigert sich die Verkehrs-Exotik noch einmal: Das subventionierte Hubschrauberfliegen ist hier weitaus billiger als ein Kneipenabend. Spannender kann es auch sein – vor allem, wenn wieder einmal dichter Nebel über den Wassern schwebt. Der Heli rüttelt und dröhnt noch auf festem Grund, als der Pilot sich zu seinen sechs Passagieren umdreht: “Wir fliegen jetzt aus der Bucht und schauen, wie es über dem Meer aussieht” sagt er, “vielleicht müssen wir wieder umdrehen.” Dann hebt die Motorhummel ihren Hintern und dreht doch nicht um. Sie knattert über die grauen Wellen in eine andere Zeit.
Winzige, gedrungene Häuschen mit weißen Steinsockeln und bunten Holzwänden kauern sich unter ihren Grasdächern in eine weite Mulde. Drei, vier Handvoll davon, wild hingestreut. Ein unreguliertes Bächlein sickert und springt hindurch, bevor es über eine Klippe ins Meer stürzt. Autos, Straßen, Werbetafeln? Nicht hier, nicht auf Mykines. Ein Dutzend Einwohner hat die Insel ganzjährig. Jetzt, im Sommer, sollen es etwa hundert sein. Dann gibt es sogar eine Fährverbindung hierher. Im Rest des Jahres fliegt nur der Hubschrauber ein paarmal wöchentlich, falls das Wetter es zulässt.
Ein sehr aufrechter Mann um die siebzig trägt einen Blecheimer voller Torfbrocken vom Schuppen ins Haus. “Ja, damit heizt man hier” sagt Jakup i Lodu und streckt mir seine raue Hand hin, “es gibt ja kein Holz. Gehen wir?” Ein Wortschwall zur Begrüßung passt einfach nicht in die Gegend. Jakup war Lehrer auf einer größeren Nachbarinsel. Jetzt, als Pensionär, hält er zwanzig freilaufende Schafe und nimmt sich gelegentlich die Zeit, Fremden seine zehn Quadratkilomter kleine Heimat zu erklären. Also, er erklärt nicht von selbst. Aber wenn man ihn etwas fragt, dann sehr gerne.
Mykines ist als Vogelinsel bekannt. Hunderttausende Seevögel nisten hier, und der Papageientaucher ist der Darling aller Besucher. Jakup mag die putzigen, gut taubengroßen Viecher mit den markanten Schnäbeln auch – und zwar lieber frisch als gepökelt. “Früher hatte jede Familie für jedes Familienmitglied ein Fass mit salzig eingelegten Vögeln” erzählt er. “Ein guter Fänger kann am Tag immerhin ein paarhundert von ihnen fangen! Vor dem Essen wurden sie ein paar Tage eingeweicht, das macht sie milder. Heute werden sie eher eingefroren. Das ist ein gutes Fleisch” sagt er, “aber seit acht Jahren habe ich keine mehr gefangen. Sie finden offenbar nicht mehr genug Nahrung im Meer. Es sind jetzt zu wenige, um sie zu jagen.” Während er das sagt, steht er in rasenden Nebelfetzen auf einer Wiesenböschung hundert Meter über dem Meer und beobachtet fast zärtlich einen Papageientaucher, der nur drei Meter vor ihm aus dem Schutz seiner Höhle watschelt, bevor er mit schnellen Schlägen seiner kurzen Flügel meerwärts schwirrt. Hunderte von Höhlen untertunneln das Gras, aus manchen klingen Vogelrufe wie eine weit entfernte Motorsäge. Sitzt man ruhig da, verlieren die Vögel ihre Scheu und starten und landen ganz nahe. Ein magisches Erlebnis in einer Stille, die nur der Sägensound, flatternde Flügel und ein paar Möwenschreie würzen.
Als der Dunst kurz aufreißt, zeigt sich der Hang bis an die Abbruchkante schwarzweiß gepunktet und mit rotbunten Schnäbeln dekoriert. “Es sind wirklich hübsche Vögel” sagt Jakup und steht auf, um Weiterzugehen, “ich schaue ihnen gerne zu”. Seinen Worten fehlt jeder ironische Hinweis auf einen Widerspruch zwischen Zuneigung und Nahrung. Auf den kargen, praktisch baumlosen Inseln erlaubt der Boden kaum Ackerbau. Um zu überleben, haben die Bewohner schon immer gegessen, was die Natur bietet, mag es nun Seetang sein oder die Eier der Basstölpel, geschmorter Papageientaucher oder das Fleisch der Grindwale, von denen noch immer Hunderte jährlich in flache Buchten getrieben und geschlachtet werden. Der Golfstrom umspült die Inseln, sein Wasser kondensiert und hält die Luft dauerfeucht. Er ist voller Fische, denen die Nachfahren der Wikinger ihren Wohlstand verdanken – und er ist der wichtigste Sportplatz der Nation.
Bjørt keucht Dampfwolken
Über die Bucht vor der Hauptstadt Tórshavn fliegen rythmische Kommandos. Breite, offene Ruderboote mit sechs, acht, zehn auf und ab pumpenden Rücken in einheitlichem Sportdress pflügen das Hafenbecken. Färöerboote, die Ururenkel der Wikingerboote. Die blauen gehören dem Ruderclub Knørrur, und im größten davon wippen zehn blonde Pferdeschwänze über neongelben Rettungswesten – die weibliche Jugend des Clubs, gesegnet mit dieser beneidenswerten skandinavischen Ausstrahlung von Selbstvertrauen, Gesundheit und Zuversicht. Einer der Pferdeschwänze gehört Bjørt Oladottir Joensen. Sie keucht eine Dampfwolke nach der anderen in die Luft und zieht das schwere, vierkantige Holzruder routiniert durch. Bewegt sie sich nicht im perfekten Einklang mit ihren Teamgefährtinnen, wird sie ihre Finger quetschen oder der Vorderfrau die Rippen prellen. Eine Stunde schnauft sie unter Volllast, dann schleppen Bjørt und die anderen den zentnerschweren Kahn gemeinsam wieder ins Bootshaus, fünfmal pro Woche. Ein Trainingsprogramm weit jenseits von Problemzonengymnastik, doch Bjørt stellt klar: “Natürlich ist das der beste Sport! Es ist auch besser als Fußball – es ist eben der Nationalsport. Die Leute feuern Dich an, schon im Training. Und Ihr solltet mal sehen, was hier in zwei Wochen los ist!”
In zwei Wochen, am 28. Juli, feiern die Färinger am Hafen ihren Nationalfeiertag. Aus allen Fjorden und durch alle Tunnel werden sie anreisen, und sie werden am Ufer stehen, wenn sich wie jedes Jahr im siebten und letzten Rennen der Saison die Landesmeisterschaft der Ruderer entscheidet. Rufen, fiebern, klatschen werden sie, wenn Bjørt und die Anderen Alles geben. Und später werden sie enger zusammenrücken in der langen, blauen Dämmerung. Sie werden sich an den Händen fassen, Tausende. Und sie werden gemeinsam singen, die Alten mit den dunkelroten Trachtenmützen und die Jungen in Turnschuhen und Schirmkappen. Sie werden in langen Reihen tanzen zu ihren endlosen Liedern über Könige und Kriege, über Mord und Totschlag und das raue Leben hier draußen. Und es wird seltsam heiter klingen.