Der große Schwindel

Foto: Enno Kapitza

Durch Schluchten streifen, durch steile Wälder stapfen, von Gipfeln schauen – das kann nicht Jeder. Wenn der Höhenschwindel einsetzt, verwandelt er harmlose Wanderwege in schaurige Grate. Mehr als jeder Vierte soll davon betroffen sein. Ob ein Coaching in den Bergen dagegen hilft? Wir haben drei Frauen begleitet, die loszogen, um das Fürchten zu verlernen.

Der erste Schritt ist vielleicht der schwerste, weil er so plüschig-harmlos daherkommt. Es ist nebelfrüh in einem Café hinter dem bayerischen Tegernsee, an vier schüsselgroßen Cappuccinotassen trocknet der Milchschaum. Zwischen ihnen liegen ein paar Spielkarten mit einem putzigen Bärenmotiv hintendrauf. “Das sind die bärenstarken Karten” erklärt Frank-Uwe Reinhart seinen drei Zuhörerinnen ernst und mit sehr sanfter Stimme. “Davon nimmt sich jetzt bitte Jede eine.” Drei gestandene Frauen, allesamt in Bergwanderkluft, zögern. Eine Bärchenkarte ziehen, gegen die angstvolle Lähmung auf Bergtouren? Das klingt doch arg unterdimensioniert. Aber Reinhart, nach der Vorstellungsrunde schon Frank-Uwe, sitzt die Situation aus. Die Teilnehmerinnen greifen zu.

Birgit ist um die fünfzig und Bäckereifachverkäuferin. Für sie beginnt der Kampf gegen die Höhenangst mit dem Bärenkartensatz “Ich vertraue meinen Fähigkeiten.” Sie wird später gestehen, dass sie einmal eine Stunde alleine neben einem ganz normalen Wanderweg saß und weinte, weil sie sich weder vor noch zurück traute. Tanja ist dagegen eher der offensive Typ. Sie hatte ihrem Partner klargemacht, dass er heute alleine losziehen muss. “Besser, wenn er heute nicht dabei ist”, sagt sie. “Der weiß nämlich immer alles besser.” Beim Wandern auf Teneriffa hat er sie mal ein steiles Lavafeld queren lassen, damit sie die Furcht davor verliert. Die Schocktherapie schlug nicht an. Seit dieser Tour glaubt Tanja nicht mehr, dass er alles besser weiß, und lange Querungen machen ihr immer noch Angst. Oder diese Seilbahnfahrt vor drei Jahren! Sie hat den Blick nicht vom Kabinenboden genommen und ihre Angst mit einer Atemtechnik aus dem Yogakurs kontrolliert. “Spaß war das keiner!” sagt sie. Tina ist die Dritte im Bunde. Ihre Bärenkarte suggeriert ihr, sie sei erfolgreich. Für ihren Job als Gesangslehrerin mag das zutreffen, doch im Gelände scheitert sie immer wieder an der Angst, abzustürzen: “Immer, wenn ich mich nicht weitertraue, suche ich Hilfe bei meinen Begleitern. Aber ich will doch auch alleine in die Berge gehen können, ohne dass mich jemand beruhigt!”

Foto: Enno Kapitza

Was die Drei antreibt, sind nicht Panikattacken oder Angststörungen, die den Alltag beeinträchtigen würden. Im Alltag ist Höhe für Gesangslehrerin Tina oder Bäckereiverkäuferin Birgit nämlich kein Thema. Nur Tanja, die in der Landwirtschaft arbeitet, muss im Job manchmal schwer Durchatmen, bevor sie auf hohe Maschinen kraxelt. Doch auch für sie geht es hier um angstfreien Naturgenuss, nicht um Psychotherapie. “Was wir hier machen, ist die Vermittlung einfacher Mentaltechniken, mit denen Körper und Geist aufeinander rückwirken,” stellt Kursleiter Frank-Uwe Reinhart klar. “Ich erkläre die Mechanismen der Höhenangst und zeige, an welchen Stellen man dagegen angehen kann, sonst nichts.” Er ist ehemaliger Berufssoldat und begeisterter Langstreckenwanderer. Nach seiner Pensionierung hat er sich in etlichen Schulungen und Praxiskursen als “Mentalcoach” gegen das ausbilden lassen, was umgangssprachlich Höhenangst heißt. Doch Angst vor dem Kursprogramm nimmt er den Kandidatinnen noch im Café: “Wenn man Angst hat, ist das Hirn blockiert und kann nicht mehr lernen” sagt er. “Ich will aber, dass Ihr heute etwas lernt. Also werden wir uns nicht in allzu kitzlige Situationen begeben.”

Dass Tina einen Kilometer später trotzdem hektisch atmet und hilflos in die Runde schaut, war nicht unbedingt zu erwarten. Eine steile, glitschige Holztreppe auf dem Wanderweg hatte sie nämlich schon unbekümmert gemeistert, danach eine schulterbreite Brücke über einen Bach überquert. “Brücken sind nicht mein Thema” sagt sie. Doch loser Boden ist ganz offensichtlich ihr Thema. Eine kleine Erdböschung neben der Forststraße, vielleicht 1,5 Meter hoch, bringt sie an ihre Grenze. Sie stampft Tritte in den Boden, krallt sich an der dunklen Erde fest… und dreht um, bevor die Angst sich im Körper festbeißt. Ein Versuch, der vorerst ohne Lösung bleibt. Sie scheitert an einer Stelle, über die routinierte Bergsteiger wohl nicht einmal nachgedacht hätten – aber der Kurs hat ja auch erst vor einer guten Stunde begonnen.

Zwei Tage haben sie sich Zeit genommen, um ihre mentalen Berg-Problemzonen herauszuschälen, sie mit einfachen Mitteln zu bearbeiten, und vor allem: um danach mehr Freude im Gebirge zu haben. Und um nicht mehr die Ersten in einer Gruppe zu sein, die sich unwohl fühlen. Denn irgendwann packt der Höhenschwindel ohnehin Jeden – den Einen erst beim Balancieren auf dem Geländer der Golden Gate-Brücke, die Anderen schon an einem knöcheltiefen, drei Meter breiten Bach. So einen hat sich Frank-Uwe nämlich als nächste Station ausgedacht: einen, klaren, munteren Gebirgsbach, den die Drei von Stein zu Stein queren sollen. Ein durchaus tückisches Objekt. Die kleine Gruppe drängt sich am Ufer zwischen großen, grünen Blättern und beratschlagt den besten Weg. Den Bach lassen sie nicht aus den Augen, als könne er sie plötzlich anspringen. “Es ist ganz normal, dass Euch Wasser irritiert” beruhigt Frank-Uwe, “der Schwindel setzt ein, wenn das Auge nicht mehr genügend Punkte findet, die es fixieren kann. Das ist bei einer Hangquerung so, weil man viel Himmel sieht. Und bei Wasser ist es noch schlimmer, denn das bewegt sich auch noch!”

Augenscheinlich reicht der Hinweis nicht, um bei Tina, Tanja und Birgit die versteinerten Kaumuskeln zu lockern. Also kramt Frank-Uwe Reinhart in der Verhaltens-Trickkiste und zieht die “Pferdchenatmung” heraus. “Versucht mal, die Lippen weich aufeinanderzulegen und dann stark auszuatmen. So, dass die Lippen richtig flattern, wie bei einem schnaubenden Pferd!” Die Frauen schnauben, flattern und lachen über sich, wie sie hier in den Tegernseer Bergen stehen und komische Geräusche machen. Und das war auch schon der Trick daran: die entspannten Gesichtsmuskeln melden dem Hirn, dass alles wieder okay ist, das Hirn regelt die Angst runter und der Bach ist kein wildes Tier mehr. Tanja geht vorsichtig voran und streckt Birgit vom anderen Ufer die Hand hin. “Es ist nur ein Schritt”, souffliert Frank-Uwe der Zaudernden, “wirklich nur ein Schritt. Sag´ Dir das immer wieder. Was soll schon passieren? Wenn Du reinfällst, bist Du nass – na und?”

Foto: Enno Kapitza

Zwanzig Minuten dauert es schließlich, bis alle drei den Bach überwunden haben. Zwanzig Minuten für drei Meter, und am Ende hat ein Satz geliehener Teleskop-Wanderstöcke bei Tina mindestens soviel bewirkt wie alle guten Ratschläge. Dann sitzen sie am anderen Ufer, beachten den entdämonisierten Bach nur noch aus dem Augenwinkel und wühlen in den Rucksäcken. “Das hat Kraft gekostet”, sagt der Coach. “Es ist gut, jetzt Pause zu machen und sich zu belohnen. Esst etwas, holt Euch die Kraft zurück.” Kraft, die sie ohnehin noch für ein paarhundert Höhenmeter brauchen werden, hinauf zum Gipfelkreuz des Hirschbergs.

Der Berg gibt die Dramaturgie vor, steigert die Spannung von der Forststraße über den Knüppelpfad zum abschließenden felsigen Steig. In den Latschenkiefern hüpfen winzige Vögelchen herum, doch Tanja schaut in die Ferne. Der Tegernsee ist hinter den Ästen aufgetaucht, im Dunst der Ebene liegt München. Wo Tanja hinschaut, ist dagegen … eigentlich nichts. Sie hat sich kurz aus der Situation ausgeklinkt, stützt die Arme auf die Oberschenkel und versucht, ihrer Atmung Tiefe und Ruhe zu geben. Wo sie steht, kann sie nicht abstürzen, selbst ein Straucheln würde im Latschengrün aufgefangen. Doch das ist genau ihre Angststelle: eine Querung an einem gewölbten Hang. Es ist nicht zu sehen, wie der Weg weitergeht. Dass auf der Bärenkarte in ihrer Hosentasche “Ich vertraue meinen Fähigkeiten” steht, dass eine zuvor gezogene “So-tun-als-ob”-Karte Ihr die Attitüde einer Königin empfiehlt – alles vergessen.

Die Angst ist da. Die Angst vor dem, was da sein könnte: ein abgerutschter Weg über tödlichem Abgrund, eine ungesicherte Kletterstelle, oder warum nicht gleich Blankeis im Hochsommer? Frank-Uwe, der Coach, erlöst sie aus der Starre. Pferdchenatmung, Hinsetzen, dann gemeinsam weitergehen, ganz behutsam. Der so furchterregende Weg macht nämlich einfach eine scharfe Kurve. Tanja schaut ungläubig hin, dann gehen sie die Spitzkehre gemeinsam. “Wartet Ihr bitte Mal?” fragt sie die Anderen, als es geschafft ist. Sie konzentriert sich. Dann geht sie die Kurve wieder herunter, ganz alleine. Und wieder hinauf. Als sie im Scheitelpunkt angekommen ist, wo man den Tegernsee so tief und blau liegen sieht, baut sich ein leises, glückliches Lächeln in ihrem Gesicht auf.

INTERVIEW

Prof. Dr. Thomas Brandt und Dr. Doreen Huppert, Deutsches Schwindel- und Gleichgewichtszentrum, Ludwig-Maximilians-Universität München

F: An manchen Wegen im Gebirge warnt ein Schild: “Nur für Schwindelfreie”. Sind die Einen also schwindelfrei und die Anderen eben nicht?

Brandt: Nein. Nach unseren Erkenntnissen geht es da eher um ein Kontinuum. Bei einer Untersuchung mit über 3.500 Kandidaten zeigte sich, dass wirklich jeder Mensch in exponierten Situationen mit Balanceproblemen und Standunsicherheit reagiert. Eine große Gruppe, knapp ein Drittel der Versuchspersonen, gibt an, dass ihnen Höhe unangenehm sei. Dieses Drittel reagiert auch deutlich physiologisch, beispielsweise mit geändertem Bewegungs- und Blickverhalten. Im Alltag sind sie damit nicht unbedingt beeinträchtigt, am Berg aber schon. Wir nennen dieses häufige Phänomen eine “Visuelle Höhenunverträglichkeit”. Vermutlich ist man damit nicht ”schwindelfrei”. Aber eine zu therapierende Angststörung, also eine echte Höhenangst, ist das auch nicht. Die haben höchstens drei bis sechs Prozent.

F: Inwiefern ist diese Höhenunverträglichkeit visuell – was hat sie also mit dem Sehen zu tun?

Huppert: Für unser Sicherheitsgefühl beim Bergwandern ist die optische Orientierung zentral. Wir suchen uns mit dem Blick nahe, klar erkennbare optische Fixpunkte wie Steine oder Bäume. An denen halten wir uns optisch fest, das stabilisiert unser Gleichgewicht. Wenn nahe Fixpunkte fehlen, wie etwa auf einem Grat oder an einem Steilhang, löst das Unsicherheit aus. Menschen mit echter Höhenangst reagieren darauf mit physischer Vernichtungsangst, die sie auch kaum selbst in den Griff bekommen. Bei dem Drittel mit milderem Höhenschwindel meidet die Hälfte einfach den Auslöser – also Bergtouren, hohe Brücken oder Türme. Die anderen müssen sich dem Problem stellen.

F: Die sogenannte “Schwindelfreiheit” ist also trainierbar?

Huppert: In gewissem Ausmaß sicher. Und wenn man wirksame Verhaltenstechniken gegen den Höhenschwindel lernt, vergisst man die auch kaum, sondern erinnert sich in der entsprechenden Situation an sie. Hundertprozentig lösen lässt sich das Problem kaum, es gibt auch Lebensphasen mit höherer oder niedrigerer Anfälligkeit.

Brandt: Goethe hat das beispielsweise selbst angepackt. Er ist eine zeitlang täglich aufs Strassburger Münster gestiegen, um sich an Höhe zu gewöhnen.

F: Kommen Höhenangst und Höhenschwindel aus heiterem Himmel?

Brandt: Woher die Neigung dazu kommt, ist nicht untersucht. Wir wissen, dass der Höhenschwindel schon bei Kindern auftritt, aber oft wieder verschwindet – häufiger ist er wohl bei Kindern von sehr vorsichtigen Eltern. In der Adoleszenz entsteht dann meistens die Form, mit der Erwachsene zu tun haben. Und es ist durchaus sinnvoll, dieses Problem zu bearbeiten, denn in der Hälfte der Fälle weiten sich die Ängste aus. Wer zunächst nur Seilbahnen fürchtet, hat vielleicht später auch Probleme mit Brücken, Türmen – oder eben Bergwanderungen.

Fünf Tipps gegen Höhenschwindel

Schlafmangel, Erschöpfung und äußerer Stress erhöhen die Wahrscheinlichkeit von Höhenschwindel. Gehen Sie ausgeruht und entspannt in die Berge.

Vermeiden Sie extreme Kopfhaltungen, wie etwa beim Blick steil nach oben oder unten. Das Gleichgewichtsorgan wird dadurch leichter irritiert als bei geradem Blick.

Wenn Panik droht: Hinsetzen oder sogar Hinlegen. Im Liegen endet der Höhenschwindel.

In kritischen Situationen das Hirn mit “Banalitäten” beschäftigen: Blumennamen aufzählen, Rechenaufgaben lösen, Schuhe binden…

Körperliche Entspannungsübungen wirken auf die Psyche zurück. “Pferdchenatmung”, leichte Muskeldehnungen oder ein Schluck Wasser aus der Flasche können die Angst lösen.

erschienen in:
STERN – Gesund Leben