In den See stechen

Foto: Jörg Spaniol

Brett statt Boot: Jeden Weiher rühren mittlerweile Trendsportler mit ihren Zwei-Meter-Paddeln um. Warum eigentlich? Unser Autor hat einen Stehpaddel-Anfängerkurs gebucht und gelernt: Es hat etwas mit der Evolution zu tun. Und gesund ist es auch.

Ist es nicht ziemlich affig, im Stehen zu Paddeln, nachdem das Boot mit Sitzbank schon vor tausenden von Jahren erfunden wurde? Vor zwei, drei Jahren wäre mein Antwort noch ein entschiedenes „Ja!“ gewesen. Nur übertrieben smarte Jungmänner mit Angeber-Sonnenbrille stehpaddelten, und zwar so ufernah, dass sie unmöglich zu übersehen waren – und so selbstgewiss, als könnten sie auch ohne Brett übers Wasser gehen. Doch der Sport ist längst im Mainstream angekommen: Allerorten schieben sich plissierte Rentner kraftsparend übers Wasser, treffen sich junge Mütter zum abendlichen Stehplaudern, vermieten Strandbäder die bunten Bretter stundenweise. Es scheint, als liefere das Paddelbrett ein Erlebnis, das im Faltboot keinen Platz hat.

Ich will es wissen, und mit knapp 50 Euro Kursgebühr inklusive Material ist die Einstiegshürde nicht übertrieben hoch. Neben mir sitzen Sabrina, Veronika, Stefan und Angelika, allesamt um die dreißig, auf orangen Plastikstühlen vor einem verwitterten Wohnwagen am oberbayerischen Pilsensee. Wir sind der Anfängerkurs, angetreten, um in drei Stunden die Grundzüge des SUP (Stehpaddeln heißt eigentlich „Stand Up Paddling“) zu lernen. Vor uns auf der Wiese steht Guido Meier, unser Coach. Er hat eine Figur wie ein Cocktailglas, oben dreieckig vor lauter Muskeln, unten schmal mangels Fett, und er hat ein langes Paddel in der Hand. Glaubt man ihm, ist der Stehpaddel-Trend längst überfällig. Nicht wegen der Figur, sondern mental.

„Es macht einen Riesenunterschied, ob man im Boot sitzt oder im Stehen paddelt: Das aufrechte Stehen ist eine Aufmerksamkeitshaltung, in der man ganz offen der Welt gegenübertritt. Sitzen ist dagegen passiv. Wir haben ein paar Millionen Jahre Evolution gebraucht, um aufrecht zu stehen – das ist die Haltung, in der der Mensch aktiv ist.“ Als notorischem Sitzpaddler war es mir bislang egal, was die Evolution zu Kajaks sagt. Aber letztlich fällt Guidos Theorie bei mir auf fruchtbaren Boden: mehr Fernsicht und eine neue Körpererfahrung sind immer gut. Es folgen noch ein paar Sätze zur fast erschreckenden Erfahrung manches Bürohöhlenmenschen, der mit dem SUP plötzlich schutzlos in der weiten Savanne einer offenen Seefläche steht, doch ich bin abgelenkt. Ich schiele nach den schicken bunten Brettern, die nebenan gestapelt liegen. Ob ich wohl ein breites, ein schmales, ein rundes, ein spitzes, ein rotes oder ein gelbes bekommen werde? Und, noch viel wichtiger: Ob man da nicht sofort runterfällt, aus der evolutionsgerechten Stehhaltung?

Gesundes Zittern

Zehn Minuten später gibt die Praxis die Antwort. Sie lautet: Man fällt nicht. Jedenfalls nicht unbedingt. Stefan hat als Erster die Kniehaltung verlassen, in der wir behutsam zwischen den Badegästen hindurch ins freie Wasser gepaddelt waren. Jetzt steht Stefan ganz ruhig und sicher auf dem Brett. Dann drücken Sabrina, Veronika, Angelika und ich uns aus dem Knien empor. Wir schauen uns an wie Primaten, die zum ersten Mal die Vorderbeine vom Steppenboden gehoben haben, um ein Werkzeug zu benutzen. Etwas verunsichert, aber mit leisem Triumph. Zur Freiheit! Zur Sonne! Hier und da bilden sich konzentrische Wellenkreise ums Brett. Sie verraten zitternde Beine.

Dieses Zittern finden Sportwissenschaftler ganz großartig. Für sie ist dieser wacklige Stand ein Grund dafür, dass das Stehpaddeln mittlerweile auch in der Physiotherapie als Rückenschulung eingesetzt wird. Moritz Martin, studierter Sportwissenschaftler und Deutscher SUP-Meister 2012, sieht die Übung als perfektes Erweckungserlebnis für vernachlässigte Körper: „Dieser Kampf ums Gleichgewicht aktiviert die Reflexe! Viele Menschen nutzen die Nervenstrukturen in ihren Beinen garnicht. Feinmotorik findet im Alltag, wenn überhaupt, am Oberkörper statt. Bis die Reflexe und der Gleichgewichtssinn einwandfrei funktionieren, verkrampfen viele Anfänger. Aber wenn Beine und Rumpf sich an ihre Möglichkeiten erinnern, hilft das der gesamten Bewegungssicherheit – auch im Alltag.“

Die wacklige Rotte auf dem Pilsensee arbeitet mittlerweile am aufrechten Stand auf dem Brett und am Werkzeuggebrauch, um es evolutionsmäßig auszudrücken. Mit mehr oder weniger wackligen Knien und rausgestreckten Hintern ziehen wir uns zaghaft am langen Paddelstiel nach vorne oder rühren den See vorsichtig um, ohne groß voranzukommen. Bei der Verteilung der Bretter hatte Guido unsere Erfahrung in den sogenannten „Roll- und Gleitsportarten“ abgefragt: je mehr Einer schon auf Ski, Skateboard, Rollschuhen oder Fahrrad unterwegs war, desto schmaler war auch das Brett, mit dem er oder sie stolz seewärts schreiten durfte. Ich war sehr stolz, denn mein Brett war sehr schmal, sehr lang und ein klein wenig zickig. Im Stillstand zitterte es nervös wie ein tänzelndes Rennpferd. Wäre der Pilsensee nicht so ein gutmütiges Gewässer, vielleicht hätte es mich abgeworfen. Also jetzt: vorwärts, und ein bisschen zügig bitteschön!

Wir fallen zu den Fischen

Wenn man sich sehr auf eine Sache konzentriert, verschwinden alle Störgeräusche. Um mich ist nur noch das leichte Glucksen der Wellen am Brett, das Strudeln des grünen Wassers beim Paddelschlag. Alles prima, denke ich – bis Guido uns zusammenruft: „Das sieht schon ganz gut aus, aber Ihr paddelt noch zu sehr aus den Armen. Gewöhnt Euch das garnicht erst an. Die Kraft kommt nicht aus dem Arm, sie kommt aus dem ganzen Körper, aus Bauch, Rücken, Schultern! Also: ganz weit vorne einsetzen, mit vorgebeugtem Oberkörper. Dann zieht Ihr Euch am Paddel nach vorne. Auf Höhe der Füße ist der Paddelschlag schon fast wieder zuende. Vorbeugen, ziehen, aufrichten. Und wieder vorne einsetzen.“ Das klingt jetzt nicht mehr nach vowiegend mentalem Erlebnis, sondern fast so kompliziert wie Kraulschwimmen oder Tangotanzen. Ich beuge, ziehe, strecke trotzdem nach Vorschrift und merke, dass Guido Recht hat: es geht mächtig vorwärts, der Paddeleinsatz stabilisiert den Stand. Das Brett wird etwa so schnell wie ein Kajak, und auf meiner Schokoladenseite (Paddel rechts vom Brett) fühlt es sich schon irgendwie „richtig“ an.

Stefan steht schon so sicher auf dem Brett, dass er vor lauter Übermut Vollbremsungen übt. Das Ergebnis ist fast jedes Mal ein Vollbad. Unsere Mitschülerinnen tauschen derweil untereinander die Bretter durch, bis auch Sabrina ein Modell gefunden hat, von dem sie das Paddel halbwegs entspannt in den See stechen kann. Als Einzige von uns fünf Novizen wird sie an diesem Tag nie mit wirklich entkrampften Zehen vorangleiten.

Zum Abschluss weiht uns Guido in die Geheimnisse einer rennmäßigen Wende ein. Dafür trippelt man bis ans Heck des Boards. Der Bug hebt sich dann aus dem Wasser, und im Nullkommanix dreht sich das Board mit einem beherzten Paddelschlag um die Boje. Also, bei Guido tut es das. Bei uns nicht. Wir fallen einfach zu den Fischen. Aber wenn ich ihn richtig verstehe, muss das auch nicht Jeder können. Neben einer Karriere als Rennpaddler stehen einem nämlich noch das stehpaddelnde Wellenreiten oder Wildwasserfahren offen. Also, grundsätzlich jedenfalls. Bei mir zeichnet sich aber nach zwei versuchten Wenden die Gänsehaut schon durch die Badehose ab. Genug für heute! Auf dem Rückweg über die Liegewiese wiegt das 14-Kilo-Brett Brett gefühlte vierzig Kilo. Die wohlige Gliederschwere hält noch einen ganzen Tag an, doch Muskelkater hinterlässt die Übung offenbar nicht. Und Muskeln, also diese Cocktailglasfigur? Das dauert sicher länger, ist aber nicht auszuschließen. Immerhin fühlt sich der Körper an wie nach etlichen Bahnen im Schwimmbad – und das Hirn hatte deutlich mehr Spaß als beim Kachelnzählen im Pool.

Der Homo Sapiens zieht durch

Ein paar Tage später leihe ich mir an einem anderen See ein Brett aus, ganz alleine. Ich stelle das Paddel auf die korrekte Länge ein und paddle weit weg vom Steg. Mit kurzen Schlägen, halbwegs aus dem Oberkörper heraus und mit so wenig Gezitter, dass man es vom Ufer wahrscheinlich nicht einmal sehen kann. Mit erhabener Haltung und einem Blick bis zum Grund, auf den drei beachtlich große Fische ihre Schatten werfen. Der riesige Schatten, der von links über sie hinweggleitet, ist mein Brett. Das Homo sapiens-Männchen darauf fühlt sich wie der Herrscher der weiten Wasserfläche und hebt den Blick zum alpinen Horizont. So viel Landschaft, so viel Ruhe, so viel Leichtigkeit!

Nach einer halben Stunde weltvergessener Paddelei riskiere ich dann doch noch einmal die im Kurs komplett gescheiterte Wende, mit himmelwärts weisendem Bug und elegant zum Heck getänzeltem Schwerpunkt – das sah einfach zu lässig aus. Vergeblich. Das Brett springt wieder seitlich weg. Als ich mit Wasser in der Nase wieder hochpruste, schwimmt das Paddel ein paar Meter entfernt. Ich zerre mich an Bord wie ein nasser Lurch. Aber egal: Die menschliche Evolution hat auch im Wasser angefangen. Und irgendwann konnten wir stehen.

Foto: Jörg Spaniol

Leihen, Lernen, Kaufen

Ein SUP-Brett kostet 800 bis 1.600 Euro, das Paddel noch einmal mindestens 60 Euro – gute Gründe, zumindest anfangs ein Board zu mieten. Es gibt kein zentrales Verzeichnis der Verleihstellen, doch die Seite standupmagazin.com listet schon über 100 SUP-Stationen auf. Die Verleihpreise liegen meist um die 10 bis 15 Euro pro Stunde, manchmal ist ein Neoprenanzug inklusive. Zehnerkarten oder Saisonabos machen den Spaß preiswerter.

Grundsätzlich ist das Stehpaddeln leicht lernbar und ein wenig belastendes, gut dosierbares Fitnesstraining. Es schult Reflexe, Feinmotorik und Kraftausdauer. Um Fehlhaltungen zu vermeiden und sein Board besser zu beherrschen, empfehlen wir einen Anfängerkurs. Die kürzeste Version dauert etwa eine Stunde, unser dreistündiger Kurs bei Bavarian Waters gehört zu den gründlicheren Angeboten. Ein Verzeichnis von Schulen findet sich auf der Seite des Verbandes Deutscher Windsurfing- und Wassersportschulen, vdws.de.

Wer paddeln möchte, wann und wo es ihm oder ihr gefällt, kauft am besten ein eigenes Brett. Für entspanntes Fitnesstraining eignet sich am besten ein Allround-Board. Die sind etwa 2,80 m bis 3,40 m lang, 75 bis 90 cm breit und 10 bis 14 Kilo schwer.


Angesichts dieser Packmaße ist der Erfolg der sogenannten „iSups“, der aufblasbaren Paddelbretter, keine Überraschung. Durch ein speziell verstrebtes Innenleben lassen sie sich knallhart aufpumpen und werden auch von Fortgeschrittenen und im Verleih eingesetzt. Die Fahreigenschaften sind bei neueren Modellen sehr gut. Oft verrät nur ein Ventil, dass es sich nicht um ein starres Board handelt. Ohne Luft passen sie in einen größeren Rucksack. Preise und Gewichte sind ähnlich wie bei den festen Boards. Ausführliche Tests und Technik-Infos: sup-mag.de

erschienen in:
STERN – Gesund leben