Blond oder tot

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Wir sollten viel öfter Perücken tragen. Mit langen Haaren. Am besten vielleicht blond? Wahrscheinlich würde das fies jucken, und der Helm würde die teure Zweitfrisur zerstören. Aber es könnte das Radeln entspannter machen. Dr. Ian Walker, ein britischer Verkehrspsychologe, hat es ausprobiert: Im Rahmen unfangreicher Studien zur Rücksichtnahme von Autofahrern auf Radler im Straßenverkehr hat er gemessen, wie sich das Outfit auf den Überholabstand auswirkt. Er hat beispielsweise Radtrikot und Helm, Warnwesten und Zivilkleidung getestet. Es gab praktisch keinen Unterschied. Etwas größer wurde der Überholabstand, wenn er eine Signalweste mit der Aufschrift „Polizei“ trug. Doch deutlich mehr Platz – immerhin 14 Zentimeter! – liessen ihm die Überholenden nur mit weiblicher Langhaarperücke.

Lustig ist das Perückenradeln nur auf den ersten Blick. Walkers Experimente triggern sofort die Erinnerungen an eigene, nun ja, Nahtoderfahrungen der letzten Monate. Und sie verweisen darauf, um wieviel größer der Spaß ohne Autos ist. Dabei geht es nicht nur um körperliche Unversehrtheit, sondern auch um die sinnliche Dimension einer autofreien Straße. Stille und Sicherheit entspannen den Nacken, und sie öffnen die Ohren. Selbst auf einer noch so kleinen und schwach befahrenen Straße ist das Gehör eine scharfgeschaltete Alarmanlage. Es ist fokussiert auf den Frequenzbereich und das Geräuschmuster eines fahrenden Autos. Ganz so, wie ein Kirschenpflücker nur die Farbe Rot sieht, während ihm alle Schmetterlinge, Sonnenblumen oder Bierlaster entgehen, ist der Rennradler sicherheitshalber in einem Wahrnehmungs-Tunnel unterwegs. Das fällt zunächst garnicht auf, weil es so normal ist. Doch plötzlich, nach ein paar Minuten ohne Auto, scannt das Gehör die Gegend nicht mehr nach Gefahr, sondern nach Schönheit oder Abwechslung. Yoga-Leute propagieren dieses „Nur beobachten, nicht werten!“ als weisheitsdienlich, und selbst noch so leistungsfixierten Trainingsplansoll-Erfüllern fällt nach Abschalten der mentalen Alarmanlage auf, dass die Vögel singen, die feuchte Wiese nach Pfefferminz riecht, dass junge Blätter im Gegenlicht ein außerirdisch intensives Grün entwickeln. Und ist es nicht fantastisch, einem startenden Mäusebussard hinterherzuschauen?

Egoismus lohnt sich

Ja, weniger Autos wären toll. Blöd nur, dass die Meisten von uns selbst Autofahrer und damit Teil des Problems sind. Mit mehr Überholabstand und mit mehr Geduld hinter Zweierreihen vielleicht, aber gerade auf dem Weg ins schönstmögliche Rad-Revier sind auch wir Nutznießer eines Paradoxons: Je weiter der Ballungsraumbewohner per Auto anreist, desto größer ist seine Chance, nachher in autoarmer Landschaft zu radeln – bis er ins Ausflugsgebiet des nächsten Ballungsraumes kommt. Aufs Wesentliche eingedampft: Je mehr Leuten ich mit meinem Auto auf die Nerven gehe, desto mehr Spaß habe ich nachher auf dem Rad. Wir werden also schon deshalb weder die Autos der Anderen noch die eigenen abschaffen. Bis auf Alpenpässe in der Wintersperre, ein paar wenige supergute Fernradwege oder autofreie Wettkampfstrecken sind Autos und Motorräder unvermeidliche Begleiter. Bei cleverer Streckenwahl nähert sich nur alle paar Minuten so eine diffus beunruhigende Geräuschwolke. Wenn es richtig gut läuft, sind Fahrer oder Fahrerin entspannt und aufmerksam. Dann dauert es nur Zehntelsekunden, bevor wieder die Schönheit rundum das Hirn flutet, bis das Gespräch mit den Radkumpels oder das Gefühl für die kurbelnden Beine und den tiefen Atem wieder dominieren.

Wir Wohlstandsgewinner

Meistens läuft es so gut, auf den Hausrunden. Und ganz ehrlich: das ist ein richtig fettes Privileg. Als Journalist habe ich weltweit Radregionen bereist und immer wieder überlegt, was eigentlich die entspannten Reviere und was die Asphalthöllen ausmacht. Es sind nur eine Handvoll Kriterien, doch die haben es in sich: Dass Klima und Landschaft passen müssen, ist vorausgesetzt. Auch dass verbreiteter Alkohol-, Drogen und Handymissbrauch am Steuer eher für eine Asphalthölle sprechen, leuchtet sofort ein. Und Machismo, kombiniert mit der Anbetung physischer Stärke, versaut die Stimmung auf der Straße zuverlässig: wer ständig beweisen muss, dass er den größeren … Motor hat, sieht im agressiv überholten Rennradler einen Beweis seiner Pracht und Allmacht. Geschenkt.
Doch über allem schwebt das Thema Wohlstand. Arme Länder haben nur sehr wenige, tendenziell stark befahrene Asphaltstraßen. Neureiche Länder sind unangenehm, weil die Straßenbreite selten parallel zur Zahl und Breite der Autos wächst. Oft ist ein Fahrrad dort auch das Fahrzeug der Wohlstandsverlierer. Der Radler hat demgemäß dem motorisierten Gewinner zu weichen, der sich immerhin ein Auto leisten kann. So ist das in sehr, sehr vielen Ländern, und nicht einmal die Polizei sieht das dort unbedingt anders.

Auch eine halbwegs gerechte Verteilung des Wohlstands scheint zu befrieden, während extreme soziale Unterschiede eher zur Verrohung als zu einem respektvollen Miteinander führen. Und damit schließt sich der Kreis zur Heimat: Noch gibt es reichlich Geheimtipps und epische Lieblingsstraßen, dazu ein Mindestmaß an Respekt. Doch nimmt nicht der Überholabstand zumindest gefühlt ab, erscheinen Blinksignale beim Abbiegen nicht verbreitet als verzichtbar? Jetzt aber mal Stopp! Wohlstand, Rechtsstaatlichkeit und Verteilungsgerechtigkeit als Voraussetzung für Spaß auf dem Rennrad? So ein Riesenfass aufzumachen, nur wegen dem bisschen Hobbysport? Was ein Lob der stillen Straße werden sollte, ist unversehens ins Grundsätzliche abgeglitten. Aber so ist es wohl: Die stillen Genießerstraßen und der Straßenradsport überhaupt sind verdammt voraussetzungsreich. Wo diese Basics fehlen, wird keine blonde Langhaarperücke das Straßennetz in Radlers Ponyhof verwandeln.

erschienen in:
TOUR – Das Rennradmagazin