Wechselhaft

Foto: Jörg Spaniol

Kofferpacken nervt. Nur nichts vergessen, nur keinen überflüssigen Ballast mitschleppen ins Trainingslager, zum Marathon, in den Urlaub. Kurze, lange, Dreiviertelhose. Regenjacke, Windweste, Beinstulpen kurz und lang. Und dann auch noch eine klare, eine orange und eine dunkel getönte Brille? Das muss doch einfacher gehen! Selbsttönende, auch phototrop oder photochromatisch genannte Brillen sind in der Saison 2020 in fast jeder Herstellerlinie gut vertreten und meistens ziemlich teuer. Ihre Besonderheit ist im Laden unsichtbar, doch ihre Tönungsumfänge von ganz hell bis ganz dunkel versprechen universelle Funktion – zumindest auf dem Papier.

Die automatische Verdunkelung beruht auf in der Scheibe eingeschmolzenen oder als Schicht aufgetragenen Silberverbindungen. Angeregt durch UV-Strahlung, verwandeln sie sich ganz oder teilweise in metallisches Silber, das – wie einst in der Schwarzweiß-Fotografie – sichtbar dunkel wird. In der Praxis hat diese Reaktion vor allem zwei Nachteile: Die Brillen reagieren in erster Linie eben nicht auf Helligkeit, sondern auf die unsichtbare ultraviolette Strahlung. Bei klarem Himmel kommt die ganz überwiegend senkrecht von oben. Schon Helmkanten oder Brillenrahmen, ganz sicher aber der Schirm einer Radmütze beeinträchtigen die Reaktion. So wird die Brille nicht immer gleichmäßig und angemessen dunkel. UV-Schutz bietet sie trotzdem, denn der hängt nicht mit dem Tönungsgrad zusammen. Die UV-Schutzwirkung manch anderer klarer Scheibe führt dagegen zu einem weiteren Manko: hinter den üblicherweise UV-schützenden Autoscheiben und ohne direkte Sonnenbestrahlung funktioniert die Verdunkelung sehr eingeschränkt. Für die Autofahrt in den Süden gibt es Besseres.

Im Winter zu dunkel

Den radsportlichen „worst case“ in Sachen Verdunkelung stellt jedoch eine Ausfahrt bei nebligem Winterwetter dar. Die Reaktion der Scheiben fällt bei Kälte deutlich heftiger aus als bei Wärme. Und weil auch im Nebel die diffuse UV-Strahlung kräftig sein kann, fährt man im winterlich Trüben gelegentlich mit einer Scheibe, die dunkel genug wäre, um einen sonnigen Karibiktag wegzufiltern (an dem sie wiederum nicht ganz so dunkel würde, denn Wärme behindert die Reaktion). Steht dann mit der stark getönten Scheibe eine winterliche Waldpassage an, kann es mit der Sicht schwierig werden – es ist einfach zu dunkel. Auf zuwenig Licht können die Augen schlechter reagieren als auf zuviel Helligkeit. Und die Brille? Die lässt sich ohnehin Zeit. Selbst die schnellsten Gläser brauchen etwa zwei strahlungsfreie Minuten, um annähernd auf Ausgangshelligkeit zu zurückzukehren. Die Verdunkelung geschieht deutlich rascher: schon nach zehn Sekunden haben die Sprinter unter den Selbsttönern (Evil Eye und Oakley) ihren Lichtdurchlass halbiert. Auch die Konkurrenz zeigt dann schon deutlich Farbe.

Eine dritte Eigenheit interessiert vor allem Radler, die bei bedecktem Himmel gerne konraststeigernde Scheiben tragen. Viele Orange- und Rotbrauntöne oder Oakleys „Prizm“-Filter vermitteln dann durch ihre Filterwirkung (vor allem im Blaubereich) eine angenehmere, klarere Sicht. Die Selbsttöner im Test werden einfach Grau, manche sogar mit leichtem Blaustich. Bei ohnehin kontrastreichem Sommerlicht ist das völlig in Ordnung, doch in diesiger Umgebung punkten die Spezialfilter. Einzig Rudy Projects „Impact X2 red“verfügt dank eigener Formel über eine derartige Selbst-Tönung für mäßiges Wetter.

Photochromatische Scheiben mit kontraststeigernder Ausgangstönung sind dabei nur selten eine überzeugende Alternative: Wenn sich ursprünglich orange oder rötlich getönte Filter mit dem Grau der üblichen Selbsttöner mischen, entstehen bisweilen eher irritierende Filterfarben bis in den Violettbereich. Optische Feinschmeckerei? Die Praxiserfahrung spricht dagegen.

Wir haben deshalb für diesen Test Brillen angefordert, die einen wirklich überzeugenden Einsatzbereich der Technik abdecken: im Übergangsbereich von Tag und Nacht, von möglichst klar zu spürbarem Lichtschutz, sind Selbsttöner perfekt. Die Feierabendrunde mit akkubeleuchteter Heimfahrt oder der noch dämmrige Frühstart in den Tag sind ihr Revier. Die uneingeschränkt nachttauglichen Kandidaten beginnen mit einer kaum wahrnehmbaren Abdunkelung von etwa 20 bis 25 Prozent, und selbst die dunkelste Scheibe im Test (Shimano, 38 Prozent) dürfte mit entsprechender Beleuchtung für Viele in Ordnung sein. Dennoch: heller ist besser. Unser Messergebnis fließt in die Bewertung ein.

Mehr ist nicht besser

Anders sieht es bei der maximalen Tönung aus. Dunkler ist nicht unbedingt besser – zumal Aufhellungsgeschwindigkeit und Temperaturabhängigkeit dazu führen können, dass die Filterwirkung zur falschen Zeit am falschen Ort zuschlägt. Die stärksten Abdunkelungen im Test (Evil Eye, Julbo, Swisseye und Uvex) empfehlen sich Normalempfindlichen eher für wirklich grelle Sonne als für die mitteleuropäische Wirklichkeit.

Die nach EU-Norm bei jeder Brille anzugebende Filterklasse (siehe Kasten) ist dabei erklärungsbedürftig: die Verdunkelungswirkung ist exponential. Während in der Klasse 0 (0-20 Prozent Verdunkelung) nur wenig zu sehen ist, liegen etwa zwischen Verdunkelungen von 70 und 90 Prozent Welten. Das unter UV-Strahlung hellste Glas im Test (Rudy Project, 72 Prozent) sollte für die meisten Rennrad-Anwendungen ausreichen. Zusammen mit Evil Eye, Oakley, Sweet Protection und dem viel günstigeren Rose-Glas liegt die Rudy Project-Scheibe gut im Rennen.

Doch ein gutes Glas alleine macht noch keine gute Brille. Schließlich soll die nicht nur vor Sonnenlicht, sondern auch vor Zugluft und umhersirrenden Fremdkörpern schützen. Ein sicherer, angenehmer Sitz mit ausreichender Lüftung gegen beschlagene Scheiben ist dabei unabdingbar – und garnicht so individuell unterschiedlich, wie sich vermuten liesse. Genau wie bei Helmen, Schuhen oder Radhosen gibt es Formen, die überdurchschnittlich Vielen passen. Die Anpassbarkeit durch formbare Bügel oder Nasenstege trägt ihren Teil dazu bei, dass unsere drei Tester in ihren Einschätzungen nicht grundsätzlich auseinanderlagen.

Interessant ist in diesem Zusammenhang der momentane Trend zur „Shield“-Form, einer durchgehenden, oft fast randlosen Scheibe. Kurz gefasst: Von den randlosen Modellen überzeugte beim Schutz und Sitz nur das BBB-Modell halbwegs. Die meisten so konstruierten Brillen brachten zu wenig Spannung auf oder nervten mit Brauen- oder Stirnkontakt an der Scheibe. Vor allem in Kombination mit Sonnencreme ist Fettschmiere auf dem Glas so fast garantiert. Den besten Sitz und Windschutz attestierten die Tester der solide gemachten, gut ausgestatteten Brille des französischen Herstellers Julbo. Ihr folgen die etablierten Platzhirsche von Evil Eye, Oakley und Rudy Project.

Fazit:
Für Perfektionisten bleibt der Packstress . Denn selbsttönende Scheiben, die glasklar anfangen und sich dann perfekt der jeweiligen Lichtsituation anpassen, sind auch mit einem Budget von über 250 Euro noch nicht im Angebot. Selbst die besten der vielseitigen Gläser kämpfen mit prinzipbedingten Tücken.

Abgesehen davon erwiesen sich praktisch alle ausreichend hellen Fabrikate als sinnvolle Kompromisslösung, insbesondere bei Fahrten mit Nacht-Anteil. Wir haben die Tönungsfunktion im Ergebnis stark gewichtet, was der Brille der jungen Marke „Sweet Protection“ zum Punktsieg verhilft – auch wenn sie bei Sitz und Passform weniger überzeugte. Dahinter folgen die bekannten, hochpreisigen Marken Rudy Project, Oakley und der Adidas-Nachfolger Evil Eye. Überraschend ist das Topergebnis der Rose-Brille. Mit nur einem Drittel des Preises stiehlt sie der Konkurrenz in der Punktwertung die Schau.

So testet TOUR

Selbsttönung (50%)
Zur Messung der Selbsttönung simulieren wir mit einer Speziallampe hochsommerliche Verhältnisse. Unter einer Beleuchtungsstärke von 25.000 Lux und entsprechender UV-Strahlung werden Anfangshelligkeit und Tönungsverlauf in regelmäßigen Zeitabständen protokolliert. Die Geschwindigkeit und die der darauffolgenden Aufhellung (relativ zum Umfang der Abdunkelung, innerhalb von 2 Minuten) werden bewertet. Der absolute Umfang der Abdunkelung fließt nicht ins Ergebnis ein. 20% der Bewertung entfallen auf das beobachtete Verhalten bei Kälte und die Reaktion auf UV-gefiltertes Licht (hinter einer Glasscheibe)

Austattung (25%)
Addition der Einzelpunkte für den Lieferumfang (wie Etui, Textilbeutel, zusätzliche Wechselscheibe, Gläser-Beschichtungen) und die Konstruktion (Justierbarkeit von Bügeln und Nasenauflage, etwaige Extras).

Passform/ Windschutz (25%)
Drei Tester mit unterschiedlichen Gesichts- und Schädelformen passen unabhängig voneinander jede Brille bestmöglich an und beurteilen den festen Sitz und den Tragekomfort (50%). Im zweiten Schritt beurteilen sie (in Rennradhaltung, mit Helm) vor einem Gebläse mit etwa 60 Stundenkilometer Windgeschwindigkeit die Schutzwirkung. Dieses Ranking ergibt die zweite Hälfte im Kriterium Passform/ Windschutz

erschienen in:
TOUR – Das Rennradmagazin